Gedanken zum 80. Jahrestag der Befreiung

Artur Pech

Artur Pech

Mein Blick fällt auf ein Familienfoto aus frühen Kindertagen.

Zu sehen ist eine glückliche Familie im Grase ihres Gartens.

An die Aufnahme selbst kann ich mich als damals kleiner Steppke nach mehr als 70 Jahren kaum erinnern – wohl aber an den Ärger der Mutter, als der Fotograf uns  das handkolorierte Bild brachte.

Sie hatte sich doch bei der Inszenierung solche Mühe gegeben, den Krieg nicht sichtbar werden zu lassen – und entdeckte nun den seitlich im Grase liegenden Krückstock meines Vaters.

Dabei war es doch für beide nicht einfach gewesen, sich mit nur einem Bein ins Gras zu setzen und anschließend wieder aufzustehen. Vaters Bein war in Charkow geblieben, jener Stadt, von der heute unter ihrem ukrainischen Namen wieder viel in den Medien zu hören ist. Der Mutter widerfuhr dieses Schicksal wenige Tage vor der Befreiung bei Ludwigslust.

Der Steppke von damals hatte sich über die fehlenden  Gliedmaßen seiner Eltern noch keine Gedanken gemacht – er kannte sie nicht anders.

Das dennoch idyllische Bild hat aber noch in anderer Beziehung mit der Befreiung zu tun. Wir saßen da im Grase eines Gartens, der unser geworden war durch die Bodenreform. Ohne eine sozialistische Siegermacht undenkbar.

Das Nachdenken kam später. So nach einem Kinobesuch, als der dann 14-Jährige den Vater fragte: Warum heißt dieser Film „Sterne“? Gemacht wurde der von Konrad Wolf, der fliehen musste, als Leutnant der Roten Armee zu den Befreiern gehörte und dann diesen ersten deutschen Film über die Transporte in die Mordlager der Faschisten machte. Heute muss ich mir erzählen lassen, das sei doch alles „verordneter“ Antifaschismus gewesen.

Dass das Kind von schwerkriegsbeschädigten Landarbeitern aus dem Osten, die Neubauern wurden, später studieren, promovieren, habilitieren konnte – auch das ist eine Folge der Befreiung.

In der Schule sah ich dann Bilder aus einem befreiten Konzentrationslager mit Bergen von Schuhen. Unser Lehrer brachte uns den Gedanken nahe: Hinter jedem dieser Schuhe steht eine Tragödie. Seid achtsam, dass die Berge von Schuhen nicht zur bloßen Statistik werden.

Die Befreier jenes KZ kamen aus einem Lande, dass mit mehr als 27 Millionen Toten den höchsten Preis für die Befreiung Europas zu zahlen hatte. Etwa jeder zweite Tote dieses Krieges war ein Mensch aus der Sowjetunion.

Diese Befreier kämpften an einer Front, an der mehr als doppelt so viele Divisionen der faschistischen Achsenmächte standen, als an allen anderen Fronten in Europa zusammen.

Da wird deutlich, wer die Hauptlast im Kampf für den Sieg über den Faschismus für die Befreiung, trug.

Seit ich denken kann, ist für mich der 8. Mai der Tag der Befreiung. Dabei ist die Auseinandersetzung um diesen Tag noch immer nicht beendet.

Für die Bundesrepublik Deutschland war es schon eine Zäsur, als der Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 vom Tag der Befreiung sprach und damit über den bundesrepublikanischen Schatten sprang.

Blicke ich darauf zurück, kommen mir verschiedene Erinnerungen in den Sinn:

Die erste:

Da hatte der Mann ein bundesrepublikanisches Tabu gebrochen. Für den Offizier der faschistischen Wehrmacht, der an der Blockade Leningrads beteiligt war, eine bemerkenswerte Leistung.

Die zweite: Zu der Zeit, in der in Leningrad eine Million Menschen verhungerte, entstand ein Foto, das Walter Ulbricht bei Stalingrad im Schützengraben zeigt – auf der anderen Seite der Front. Die Spuren dieses Gegensatzes ziehen sich bis in die Gegenwart.

Die dritte:

Anfang November 2017 war ich auf dem Piskarjowskoje-Friedhof im heutigen Sankt Petersburg. Allein dort wurden fast eine halbe Million Menschen begraben. Eingebrannt hat sich bei mir die Erinnerung an ein Stück Brot auf der Einfassung der Gräber mit der Jahreszahl 1943.

Das kam mir in den Sinn, als ich jüngst hörte, man müsse doch Schiffe anhalten (blockieren?) die heute den Hafen dieser Stadt anlaufen. Wenn es auch nicht mehr viele sind – es gibt dort noch Menschen, die die Blockade überlebten,

Zum 50. Jahrestag der Befreiung hielt der zu jener Zeit amtierende Amtsnachfolger Richard von Weizsäckers als Bundespräsident eine Rede, in der er die Frage, ob der 8. Mai 1945 für die Deutschen ein Tag der Niederlage oder ein Tag der Befreiung gewesen sei, als „nicht sehr fruchtbar“ bezeichnete.

Zu einer der Spuren meiner dreißig Jahre als Gemeindevertreter in Schöneiche bei Berlin gehört eine Antwort auf diese Frage. 1995 folgte eine Mehrheit aus allen Fraktionen meinem Antrag, dem Platz am Rande unseres Ortes, auf dem unter einem Ehrenmal 239 Soldaten der Roten Armee bestattet wurden, einen Namen zu geben: Platz des 8. Mai – Tag der Befreiung.

Über diesen Platz verläuft die Grenze zu Berlin. Die Menschen, die den Angehörigen noch Anfang Mai 1945 die Nachricht vom Tod ihrer Liebsten übermitteln mussten, konnten deshalb zu Recht sagen: Sie wurden in Berlin begraben.

Danach machten sich Menschen aus unserer Gemeinde in Archiven auf die Suche und ergänzten, vervollständigten die Tafeln mit den Namen der dort Beigesetzten.

1961 begann Konrad Wolf den Film nach dem Drama seines Vaters „Professor Mamlock“ mit den Worten: „… 1933 schrieb Friedrich Wolf ein Drama. Damals waren die Todeslager noch nicht errichtet, die Gaskammern noch nicht erfunden, sechs Millionen Juden noch nicht ermordet. Der zweite Weltkrieg lag noch in weiter Ferne. Damals war dies alles noch nicht geschehen. Der Dichter erzählt vom Schicksal des deutschen Arztes, des Juden …“

Im gleichen Jahr, mit dem gleichen Wissensstand, wurde während der XIII. Tagung des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale eine zur Definition geronnene Charakteristik des Faschismus gegeben: „Der Faschismus an der Macht ist die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals. Sie wird meist Georgi Dimitroff zugeschrieben, auch als Dimitroffsche Definition bezeichnet. In Wahrheit befand sich der bulgarische Kommunist zum Zeitpunkt der Moskauer Tagung in der Hand der deutschen Machthaber. Ihm, weiteren Kommunisten und Marinus van der Lubbe wurde in Leipzig ein Prozeß gemacht, mit dem den Kommunisten die Urheberschaft des Reichstagsbrandes angehängt werden sollte. Wer im Stab der Komintern, anknüpfend an frühere Bestimmungen – unter anderem eine von 1923 stammende Clara Zetkins – diese Kennzeichnung formuliert hat, ist unbekannt. Doch hat Dimitroff, daher mag die erwähnte falsche Zuordnung rühren, sie sich zu eigen gemacht und durch seinen im August 1935 gegebenen Bericht an den VII. Komintern-Weltkongreß, der die Definition enthielt, zu ihrer Popularisierung enorm beigetragen.“[1]

Konrad Wolf beendete seine Verfilmung von „Professor Mamlock“ mit den Worten:

Es gibt kein größeres Verbrechen – nicht kämpfen zu wollen – wo man kämpfen muss.

Allen Befreiern gebührt unser Dank.

Es gehört hierzulande zum herrschenden Ton, den überragenden sowjetischen Anteil an der Befreiung, am Sieg über den Faschismus kleinzureden oder ganz vom Gedenken auszuschließen. Das wird der Verantwortung der Nachgeborenen gerade in Deutschland ebenso wenig gerecht, wie die erklärten Versuche Russland zu ruinieren und die Vorbereitung eines dritten – gar schon datierten – Krieges gegen Russland.

[1] Kurt Pätzold Mehr als ein Definitionsstreit, Vor 75 Jahren charakterisierte die Kommunistische Internationale den Faschismus an der Macht, junge Welt, 11.12.2008 S. 10.