Rede Stephan Wende zum 8. Mai – Am 8. Mai 1945 wurde der zweite Weltkrieg in Europa beendet

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Genossinnen und Genossen, liebe Freunde!

Heute vor 80 Jahren, am 8. Mai 1945, wurde der zweite Weltkrieg in Europa beendet. Zwölf Jahre nationalsozialistische Diktatur und fast sechs Jahre Krieg, die Verfolgung der europäischen Juden und unzähliger anderer Opfer hatten – eine unvorstellbare, furchtbare Zahl – 55 Millionen Menschen den Tod gebracht.
Vor 80 Jahren beendeten die heranrückenden Armeen der Alliierten das unmenschliche System der Konzentrationslager, jener Stätten des Grauens, in denen seit 1933 unschuldige Menschen, Juden, Sinti und Roma, Christen, Sozialdemokraten und Kommunisten gequält, gefoltert und ermordet wurden.
Krieg und Terror, Bombenkrieg, Flucht über Land und See und Vertreibungen, das sind Begriffe für unendliches Leid.

Der 8. Mai ist der Tag der Befreiung von diesem menschen-verachtenden System und es ist der Tag des Endes der Kämpfe.

Ich warne uns „Heutige“ davor, die Geschichte als Waffe in den aktuelle Auseinandersetzungen einzusetzen. Denn das wird leider aktuell getan.
Es ziemt sich nicht, den 8. Mai für die heutige globale Konfliktlage zu instrumentalisieren.
Das runde Gedenkdatum des 8. Mai soll vielmehr Anlass für die unterschiedlichen Streitparteien in der europäischen Politik sein, auf der Weltbühne für einen Augenblick innezuhalten und zu reflektieren, wie eine Versöhnung der gegenwärtig konfliktgeladenen europäischen Gemeinschaft möglich wäre. Gibt es Aussicht auf ein gemeinsames europäisches Narrativ für ein Leben in Würde, Freiheit und Frieden aller Völker?

Heute am 8. Mai bekennen wir erneut unsere Entschlossenheit zum Engagement für den nach dem Kriege erreichten Frieden, und wir wissen uns all‘ jenen tief verbunden, die die Hand zur Versöhnung reichten.

Wir gedenken heute in Trauer der Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft.
Wir gedenken dabei insbesondere der Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden.
Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma, der damals sogenannten Geisteskranken und Abartigen, der Menschen, die um ihrer religiösen oder politischen Überzeugung willen litten und starben.
Wir gedenken der Opfer des Widerstandes in den besetzten Staaten und der Opfer des deutschen Widerstandes.
Und wir gedenken derer, die als Gerechte unter Einsatz ihres eigenen Lebens Menschenleben retteten.
Wir gedenken der Zivilbevölkerung, die – als der Krieg heimkehrte – bei Fliegerangriffen, in Gefangenschaft, bei Flucht und Vertreibung ihr Leben verloren.

Ihr aller gemeinsames Opfer, das der verfolgten Menschen und der geschundenen Völker, mahnt uns, den Widerstand gegen alte und neue Nazis gemeinsam zu organisieren.
Dabei dürfen wir nie vergessen, wie systematisch die Nazis damals vorgegangen sind, um Massenmord und Weltkrieg vorzubereiten.
Erst warfen sie die Kommunisten und Sozialdemokraten in die Gefängnisse und die ersten KZs, dann beseitigten sie mit der so genannten Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat sowie dem Ermächtigungsgesetz die demokratische Staatsordnung der Weimarer Republik. Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums markiert die erste Etappe der organisierten Judenverfolgung. Und mit der Zerschlagung der freien Gewerkschaften zerstörten die Nazis eines der letzten Bollwerke, das ihrer absoluten Machtergreifung noch hätte im Weg stehen können.

Niemand hat das treffender und präziser formuliert als Martin Niemöller:

Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat.

Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich nicht protestiert; ich war ja kein Gewerkschafter.

Als sie die Juden holten, habe ich nicht protestiert; ich war ja kein Jude.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestierte.

 

Unsere Erinnerung an die Gräuel der Nazis, unser Entsetzen über die Millionen Opfer, unsere Abscheu und Empörung über die Untaten von SA, SS, Waffen-SS und Wehrmacht wach zu halten, ist erste Demokratenpflicht.
Doch mindestens zweierlei muss hinzu kommen:
Zum einen dürfen wir die gesellschaftlichen Bedingungen und politischen Helfershelfer nicht vergessen, ohne die die Nazis in Deutschland nicht an die Macht gekommen wären.
Und zum anderen müssen wir Lehren aus der Geschichte ziehen – auch 80 Jahre danach.

Heute wissen wir, man kann und man darf den Pakt mit dem Teufel nicht schließen.

Und diejenigen, die damals geirrt haben, haben sehr bitter dafür bezahlt – übrigens auch die, die sich nicht geirrt haben und sofort in den aktiven Widerstand gegangen sind.

Umso wichtiger ist, dass wir die Lektion Otto Wels nie vergessen und uns immer wieder bewusst machen:
Man kann eine Organisation nicht retten, wenn man ihre Idee verrät.
Man darf sich nicht gemein machen mit den Feinden von Demokratie und Menschenwürde.

Es ist und bleibt unsere Aufgabe, Erinnerungsarbeit zu leisten. Zumal bald keiner mehr leben wird, der das alles erlitten und überstanden hat.

Aber es geht um mehr: Es geht darum, den Schwur von Buchenwald: „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“ Tag für Tag zur zentralen Handlungsmaxime unseres demokratischen Gemeinwesens zu machen.
Gestern – heute und morgen.

Manche klugen Leute sagen: Wer sich nicht erinnern will, läuft Gefahr, es erneut zu erleiden. Also erinnern wir uns. Heute vor 63 Jahren schwiegen endlich die Waffen. Faschismus und Krieg kosteten die Menschheit 55 Millionen Tote, darunter sechs Millionen Juden und 20 Millionen Slawen und eine halbe Million Sinti und Roma. Europa und viele Länder darüber hinaus lagen in Schutt und Asche.

Ich gestatte mir, eines der ersten Dokumente zu zitieren, die von deutschen Antifaschisten nach dem Tag der Befreiung veröffentlicht wurden und in denen von der Schuld des deutschen Volkes gesprochen wird.

Denn die Befreiung war leider nicht das Werk der Deutschen, sondern der Anti-Hitler-Koalition der Staaten und Völker, darunter vor allem die Sowjetunion.
„Umso mehr muss in jedem deutschen Menschen das Bewusstsein und die Scham brennen, dass das deutsche Volk einen bedeutenden Teil Mitschuld und Mitverantwortung für den Krieg und seine Folgen trägt.“
So heißt es im Aufruf der KPD vom 1. Juni 1945. Und weiter heißt es:
„Ihr Teil Schuld tragen auch die zehn Millionen Deutsche, die 1932 bei freien Wahlen für Hitler stimmten. … Ihr Teil Schuld tragen alle jene deutschen Männer und Frauen, die willenlos und widerstandslos zusahen, wie Hitler die Macht an sich riss, wie er alle demokratischen Organisationen, vor allem die Arbeiterorganisationen, zerschlug und die besten Deutschen einsperren, martern und köpfen ließ.

Schuld tragen alle jene Deutschen, die in der Aufrüstung die ‚Größe Deutschlands’ sahen und im wilden Militarismus, im Marschieren und Exerzieren das alleinseligmachende Heil der Nation erblickten.“

Welch‘ furchtbaren Analogien ins Heute ..

„Unser Unglück war, dass Millionen und aber Millionen Deutsche der Nazidemagogie verfielen, dass das Gift der tierischen Rassenlehre, des ‚Kampfes um Lebensraum’ den Organismus des Volkes verseuchen konnte.

Unser Unglück war, dass breite Bevölkerungsschichten das elementare Gefühl für Anstand und Gerechtigkeit verloren und Hitler folgten, als er ihnen einen gutgedeckten Mittags- und Abendbrottisch auf Kosten anderer Völker durch Krieg und Raub versprach. So wurde das deutsche Volk zum Werkzeug Hitlers und seiner imperialistischen Auftraggeber.“

Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Genossinnen und Genossen, es gibt Lehren, die zwar alt sind, aber sie bleiben doch ewig richtig.
Dazu gehören Solidarität und Toleranz. Dazu gehören Demokratie und Freiheit.

So richtig es ist, dass wir die demokratische Freiheit wie die Luft zum Atmen brauchen, so wichtig ist es auch, dass diese demokratische Luft nicht verpestet werden darf.

Das ist der Grund, warum wir überall und an jedem Ort alten und neuen Nazis die Stirn bieten.

Das ist der Grund, warum wir das Verbot aller neofaschistischen Organisationen und auch die sofortige Einleitung eines  Verbotsverfahrens gegen die AfD fordern.

Der demokratische und soziale Rechtsstaat, in dem alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, in dem die Grund- und Menschenrechte geachtet werden, in dem demokratische Parteien, freie Gewerkschaften und Religionsfreiheit ebenso garantiert sind wie die Verpflichtung zur Sozialstaatlichkeit ist das, was die Mütter und Väter des Grundgesetzes als Antwort auf die Nazis formuliert haben:

Statt Menschenverachtung und Tyrannei – Menschenwürde und Demokratie.

 

Es wäre die große Chance, wenn endlich eine Generation aufsteht, die nicht mehr durch den Schlachthof den Eintritt in die Geschichte finden muss.

Ersparen wir unseren Kindern und Kindeskindern den Krieg ein für alle Mal, sagen wir es wieder mit Wolfgang Borchert, der  1947 in Basel lungenkrank und sterbend sein Vermächtnis schrieb:

Mann an der Werkbank, wenn sie wiederkommen und dir sagen, du sollst statt Wasserrohren und Kochgeschirren Kanonenrohre und Handgranaten ziehen. Mann an der Werkbank, sag nein!
Und wenn sie kommen, Pfarrer in der Kirche und sagen, du sollst wieder den Krieg rechtfertigen und heilig sprechen und die Waffen segnen.
Pfarrer auf der Kanzel, sag nein!

Und Mutter, wenn sie zu dir kommen und sagen, du sollst gebären, Jungs für die Schützengräben, Mädchen für die Spitäler, für den nächsten Krieg.#
Mutter in der Ukraine, Mutter in Deutschland, sag nein !

Denn wenn ihr nicht nein sagt, wird das alles noch viel schlimmer wiederkommen!

Stephan Wende